Wenn du mir vor drei Jahren gesagt hättest, dass ich einmal hauptberuflich als Yogalehrerin arbeiten würde, hätte ich wahrscheinlich geantwortet: „Was für ein Alptraum!“ Ich habe Yoga nie gemocht. (Und schon gar nicht vor Menschen zu sprechen, aber das ist ein anderes Thema). Zumindest habe ich Yoga nie ausprobiert, weil ich dachte, ich würde es nicht mögen. Die gängigen Vorurteile über Yoga, die sich im Nachhinein als kompletter Blödsinn herausgestellt haben, waren damals ein fester Bestandteil meines Glaubenssystems: Yoga sei nur für Schwächlinge, Möchtegern-Spirituelle und alte Menschen, die sich sonst nicht mehr bewegen können. Auf jeden Fall nichts für mich. Denn ich war ja eine junge, moderne und sportliche Frau. Ich liebte es mich auszupowern bei Zumba, Step-Aerobic oder Piloxing. Ich trug fancy Sportbekleidung und machte Tanzkurse, High Intensity Training, Kampfsport, … Jeden Tag ein anderer Kurs, Hauptsache die Musik war laut und ich fühlte mich danach körperlich schlapp. Denn nur das war für mich Sport. Nur so konnte ich nachts einschlafen.
Heute weiß ich, was ich tatsächlich suchte: Ablenkung. Ablenkung von mir selbst, meinen Gefühlen, meiner inneren Leere. Ich wollte nicht mit mir allein sein. Ich brauchte ständig irgendwas, um nicht mit meiner Innenwelt in Berührung kommen zu müssen. So traurig und einsam war es in mir, dass ich Angst davor hatte, mit mir selbst Zeit zu verbringen. Mit dem Sport konnte ich die Selbstzweifel kurz vergessen, mich stark fühlen und meine Maske aufrechterhalten, dass mit mir alles okay war. Bis es irgendwann überhaupt nicht mehr okay war… Und dann kam Yoga in mein Leben.
Es war im Oktober 2016. Ich saß abends in meinem WG-Zimmer in Wien. Als frisch gebackene Diplom-Ingenieurin, körperlich fit, in einer Beziehung und einem sinnvollen Bürojob mit dem höchsten Gehalt, das ich je verdient hatte. Aber innerlich fühlte ich mich so leer wie nie zuvor. Jetzt, wo ich so viel im Außen erreicht hatte, fiel mir umso deutlicher auf, wie viel mir innerlich fehlte. Wie zutiefst unglücklich ich in Wahrheit war. So nebenbei blätterte ich durch ein Frauenmagazin und fand auf einer Seite fünf Yogaübungen für mehr Balance im Leben. Und so hat es begonnen. Ganz unscheinbar und doch so lebensverändernd: Meine Liebesgeschichte mit Yoga.
Meine allerersten Yogaübungen waren Vrikshasana (Baum), Bakasana (Krähe), Virabhadrasana 3 (Krieger 3), Ardha Chandrasana (Halbmond) und Navasana (Boot). Diese fünf Asanas übte ich einige Wochen 2-3 Mal pro Woche. Warum ich damit anfing, weiß ich bis heute nicht. Es fühlte sich einfach irgendwie gut an. Mein erster körperlicher Erfolg war es Bakasana nach einigen Tagen Übung für fünf Sekunden halten zu können. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Auf Instagram fand ich Yogaprofile von Menschen, die mich dazu inspirierten neue Dinge auszuprobieren. Es kamen immer mehr Asanas zu meiner mittlerweile täglichen Übungsliste dazu. Ich übte und übte. Und dabei entwickelte ich immer mehr Gefühl für meinen Körper. Nach einigen Monaten fühlte ich mich zum ersten Mal richtig mit mir selbst verbunden. Ich konnte meinen Körper bewusst wahrnehmen, ihn kontrollieren und auch wertschätzen für das, was er leistete. Nach einem Jahr kam die spirituelle Komponente ganz natürlich dazu und damit auch die Suche nach beruflicher Erfüllung. Ich begann zu meditieren. Zunächst war das alles andere als einfach. Entweder konnte ich keine fünf Minuten stillsitzen, ohne an tausend Dinge gleichzeitig zu denken. Oder ich wurde mit so viel emotionalem Ballast aus meiner Vergangenheit konfrontiert, dass ich am liebsten wieder vor mir davongelaufen wäre. Doch diesmal blieb ich bei mir, in guten wie in schlechten Zeiten.
Nach zwei Jahren intensiver Auseinandersetzung mit mir und meinem Körper und einem eigenen kleinen Yoga-Business in den Startlöchern, bin ich nun an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich sagen kann, dass ich glücklich bin, ich zu sein. Ich in diesem Körper, in diesem Leben, mit diesen Herausforderungen. Jeder hat Herausforderungen. Es geht auch nicht darum, irgendwann keine mehr zu haben, sondern sie anzunehmen und für die persönliche Weiterentwicklung zu nutzen. Yoga ist mein Werkzeug. Und ich bin mehr als dankbar dieses Werkzeug gefunden zu haben. Yoga ist so viel mehr als körperliche Übungen. Obwohl der Körper mein Einstieg ins Yoga war (und ich die physische Anstrengung immer noch liebe), hat sich meine tägliche Praxis mittlerweile mehr in Richtung Pranayama und Meditation entwickelt. Aus dem Inneren schöpfe ich meine Kraft. Sobald ich innerlich bereit bin, kommen die körperlichen Fähigkeiten (wie z.B. der Handstand) automatisch dazu.
Was sich nicht verändert hat, ist meine Liebe zu Balance-Übungen. Diese sind nach wie vor meine liebste Praxis und stehen immer noch täglich auf dem Programm. Das Schöne daran ist, dass man während man die Balance hält, niemals den Verstand benutzen kann. Damit der Körper ruhig sein kann, müssen auch die Gedanken ruhig sein. Ich bin dann zu 100% präsent, im Augenblick, nicht im Kopf, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Genau hier. Genau jetzt. Ich existiere. Ich atme. Ich lebe. Im Hier und Jetzt. Einfach ich, so wie ich nun mal bin. Und das macht mich glücklich, darin sehe ich Sinn.
Warum also Yoga? Weil Yoga mich lehrt im Augenblick zu leben. Das Leben besteht aus vielen einzelnen Augenblicken. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Das Leben findet immer jetzt statt. Und dieses Jetzt voll auszukosten, das ist für mich die wahre Lebenskunst.
Comments